Allgemeine, einführende Gedanken zum Werk Jani Christous
Von Kai Johannes Polzhofer. Jani Christou gehört zu einer der schillernden, dennoch wenig bekannten Schlüsselgestalten der Experimentalmusik des 20. Jahrhunderts. Geboren und aufgewachsen in Kairo, Kind griechischer Eltern, ausgebildet an den Eliteinstitutionen Englands, erlernt dort Zwölftontechnik beim emigrierten Wiener Orff-Schüler Hans Redlich, nebenbei Hörer Russels und Wittgensteins (und insbesondere Zeuge dessen Fragen nach den Grenzen der Logik und Sprache). Später reist er C. G. Jung nach, studiert bei jenem dessen Ideen zum kollektiven Unbewussten und den Archetypen. Eng befreundet mit musikalischen Größen wie Giacinto Scelsi, neben Iannis Xenakis schließlich eine der zentralen Figuren der griechischen Avantgarde. Viel zu früh, mit 44 bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Deshalb vielleicht von der Musikgeschichtsschreibung bis heute eher als Fußnote behandelt.
Man könnte Christous Arbeit von außen betrachtet mit gängigen Stichworten wie Fluxus, Happening, Performance charakterisieren, würde damit aber das Eigentliche verfehlen. Christou, dessen Arbeiten stets durch politische Willkür verursachte Gewalt und Leid thematisieren, ist weit entfernt von jeder Form spielerischer Postmoderne. Bei ihm geht es eher um ein existentielles Aufrütteln des Publikums durch szenische Aktionen, die die Konventionen musikalischer Sprach- und Aufführungsnormen sprengen. Er entwickelt dazu die Methode der Metapraxis (die an die antike Tragödientheorie anknüpft, die das Drama als reinigenden Akt der regelmäßigen Versöhnung der politischen Gemeinschaft mit dem kollektiv Unbewussten und Verdrängten definierte). Metapraxis bedeutet konkret, dass in den graphischen Partituren Christous, also durch die experimentielle Notation von Bildern, die Musiker dazu aufgefordert sind, konventionelle Denk- und Musizierhaltungen aufzugeben und durch scheinbar irrational assoziierte neue zu ersetzen.
Die so angestoßenen musiktheatralen Aktionen, ritualisierte Erweiterungen und Durchkreuzungen des zu Erwartenden sollen als eine Form der Metapraxis jedoch keinen Gegenbegriff, sondern eine paradoxe Erweiterung und Überschreitung der in unserer alltäglichen Wirklichkeit gelebten kollektiven und individuellen Praxen bedeuten. Metapraxis meint bei Christou, die Ebene des vorgegebenen Sinnes einer alltäglichen Praxis zu verlassen. Durch spontane Aktionen soll so eine Neuordnung, eine Verrückung der Wirklichkeit vorgenommen werden, indem durch das schöpferische Tun ein neuer Erfahrungsraum erschlossen wird, der die konventionelle Bedeutung von Sinnerfahrung relativiert. In diesem Spannungsfeld zwischen Praxis und Metapraxis, vetrauter Ordnung und scheinbar neuer Unordnung, soll klar werden, welche Form irrationaler Rationalität hinter all den uns so sehr vertrauten alltäglichen Vorstellungen von Rationalität liegt. Und gleichzeitig soll dieses Durchbrechen der konventionellen Bedeutungs- und Erfahrungsebenen die musikalische Zeit überschreiten hin zum Erlebnis einer kosmischen Zeit. Diese kosmische Zeit ist für Christou das rituelle Bezeugen der Dialektik, der Komplementarität, der paradoxen Gleichzeitigkeit von Rationalität und Irrationalität. Die musikalische Zeit, die in der Metapraxis zum Ritual und zur kosmischen Zeit sich erweitert soll so die größere Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzeigen. So wie die antike Tragödie als Heraufbeschwören der alten Blutrache in in die allgemeine, archetypische Zeit des Mythos eintritt, in dem die konventionellen Konzepte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich verwischen, so will Christou die Erfahrung der Metapraxis zum Ausgangspunkt machen, die musikalische Zeit zur kosmischen Zeit hin zu tranzendieren. Praxis und Metapraxis, Vernunft und Unvernunft sind hier eben keine Gegensätze, sondern verhalten sich komplementär und geben die größere Wirklichkeit wieder. Und das heißt im Umkehrschluss: In unseren alltäglichen Praxen stehen wir bereits in einem Kontinuum von Ewigkeit, das den einzelnen Moment als Aspekt einer größeren Sinndimension von Einheit umfassen kann. Die Metapraxis und das Kunstwerk der Metapraxis ist eine besondere Weise, in der sich der gebrochene, eindimensionale Mensch der Moderne eines größeren, jedoch unsagbaren (weil nicht einfach nur einseitig rationalen) Sinnzusammenhanges, in dem er immer steht, zurückzuversichern vermag.
Wichtig scheint es hier festzuhalten, dass es Christou gerade nicht um eine Art der Tranceerfahrung ging, wie es die Esoterik des New Age oder die Meditationsmusik eines Arvo Pärt versprechen. Christou ging es als Künstler immer um ein radikales politisches Eingreifen in das Hier und Jetzt. Graphische Spielanweisungen in seinen Partituren, wie die Enthauptung von Kriegsgefangenen neben dem Liebesspiel eines Ehepaares, offenbaren das. Dies jedoch gleichsam durch dieses Hier und Jetzt hindurch, als eine Besinnung auf das Archetypische hinter den Praxen. Das Aufrütteln in seinen Werken durch scheinbar ver-rückte Gesten, Verhaltensweisen soll eine ästhetische Wachheit bei uns, den Teilnehmern am Ritual der Metapraxis evozieren, die uns erlaubt, unser eigenes Leben, unsere jeweilige Praxis zu hinterfragen und konkret, im ästhetischen Vollzug geradezu mythisch, kosmisch zu unterwandern. Es geht hier also um den ganz konkreten Menschen in den Zusammenhängen seiner gesellschaftlichen Unfreiheit und dem überzeitlichen Potential seiner Befreiuung.