Jubiläumsfestival: Abschlusskonzert
Juliane Harberg, Johannes Cotta, Martin Steuber, Ermis Theodorakis

Digitale Veranstaltung
youtube.com
Eintritt frei

Pätzold, Beyer, Kleinlosen, Theodorakis

ensemble forma: Pätzold (WP), Beyer (WP), Theodorakis, Kleinlosen (WP)

Der letzte Beitrag des diesjährigen forma 10+1 Jubiläumsfestivals ist – dem Anlass entsprechend – pure forma Zusammenarbeit. Hier treffen Komponisten und Künstler:innen, Vereinsmitglieder und Freunde aufeinander. In den vier Kompositionen, darunter drei Uraufführungen, begegnen sie sich auf Augenhöhe, wohl wissend was sie einander abverlangen, anvertrauen und miteinander teilen können. Hier zeigt sich der Verein allem voran als Herzprojekt und Verschreibung an die zeitgenössischen Musik.

Uraufführung

Felix Pätzold 1986 –
mignonlieder 2021

für Mezzosopran solo (3 min)

Es beginnt Juliane Harberg, solistisch, mit der kurzen, für sie geschriebenen Neukomposition mignonlieder des in Leipzig ausgebildeten Felix Pätzold. Die textbasierte Komposition erlaubt es der Sängerin ihren weiten Tonumfang zu zeigen, fordert große Tonsprünge und schnelle Dynamikwechsel, bleibt dabei jedoch ruhig, teilweise tonal. Die Textgrundlage bildet die dritte Zeile des Mignon Gedichtes aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Dabei erstreckt sich die einzelne Phrase über die gesamte Komposition, einzelne Wortteile werden gedehnt, Laute und Konsonanten wiederholt oder aasdfasdfuch eingefügt. Der Figur des/der Mignon/Mignonne, einer oft sexualisierten, androgynen, musizierenden Kindergestalt tritt im Roman als eine (nicht unkompliziert) freundschaftliche Begleitern des Protagonisten auf. Die dort niedergeschriebenen Mignon–Gedichte dienten vielen Musikern als Kompositionsgrundlage. Man findet sie unter anderem bei Beethoven, Zelter, Schubert und Schumann, Tschaikowsky oder Hugo Wolf.

Heiß‘ mich nicht reden, heiß‘ mich schweigen!
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht.
Ich möchte dir mein ganzes Inn’re zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.
[…]

Mignon von J.W. Goethe 
Uraufführung

Stefan Beyer 1981 –
Maß und Gewicht 2020

für Schlagzeug, Klavier, E-Gitarre und Tape (15 min)

In der darauffolgenden Komposition Maß und Gewicht von Stefan Beyer spielen Ermis Theodorakis, Martin Steuber und Johannes Cotta mit verschwimmenden instrumentellen Verantwortlichkeiten. Auch Gitarrist und Pianist sind hier gelegentlich Teil der Rhythmusgruppe, allen drei Musikern stehen verschiedene geräuscherzeugende Percussion-Instrumente zur Verfügung. Auf derGitarre selbst werden im gesamten Stück nur fünf verschiedene Töne gespielt. Die Musiker werden dabei von einer vorproduzierten Tapespur begleitet. Besonders ist hier auch der Einbezug von extra angefertigten Plattenglocken, drei in der Größe variierende Platten aus Glockenmessing, die angeschlagen oder gestrichen werden können. Die ruhige, flächige Komposition lebt von diesen verschiedenen, ungreifbaren Klangzusammenstellungen. Die wenigen erklingenden Töne liegen eng beieinander. Gleichzeitig eröffnen sich durch die liegenden Klangflächen weite Räume, die jedoch ungefüllt, unbespielt bleiben. Durch die tonale Reduktion entsteht eine spannungsvolle Trostlosigkeit und intensive Leere, nur gelegentlich unterbrochen von einem harten, metallenen Glockenanschlag. Schließlich eine vom gezupften, geschlagenen Klavier durchbrochene Meditation, welches sich mit der Ruhe nicht abfinden will. Immer wieder Störgeräusche, bis das Rauschen langsam leise, mit einem hellen Glockenklang endend, verklingt.

Ermis Theodorakis 1979 –
Lied 2010

für Mezzosopran und Klavier (10 min)

In Lied von Ermis Theodorakis kommt das Duo, bestehend aus Juliane Harberg und dem Komponisten selbst endlich zusammen. Der Titel des Stückes ist dabei durchaus kritisch zu verstehen. Die in der Klassik vorherrschende Rollenaufteilung wird hier aufgebrochen, in entgegengesetzt verlaufenden Dichteskalen wechseln die beiden Musizierenden ihre Verantwortlichkeiten und bleiben damit gleichberechtigt. Wie zwei entgegengesetzt verlaufende Regler schieben sich die komplexen Rhythmen über den Gesamtverlauf des Stückes übereinander. Dabei bleibt es dialoghaft, selten wird das Klavier hier zu einer Begleitstimme, auch gibt es lange Passagen ohne Gesang. Dieser bleibt zudem ohne Text, die gesungenen oder ausgestoßenen Laute entstammen verschiedenen europäischen Sprachen. Ursprünglich komponierte Theodorakis das Stück für Harbergs Abschlussprüfung im Fach Gesang, nach 10 Jahren Liegezeit wurde es im Jahr 2017 schließlich uraufgeführt.

Uraufführung

Adrian Kleinlosen 1987 –
Paroxysmen 2016-17/2021

für Stahlseitengitarre, Cembalo, Schlaginstrumente und Elektronik (11 min)

Den programmatischen Abschluss bildet Paroxysmen von Adrian Kleinlosen. Die dreiteilige Komposition bringt die drei Musiker Cotta, Steuber und Theodorakis an die Grenzen ihrer Präzisionsmöglichkeiten. Die Konzentration, die das Stück von den Zuhörenden fordert, wird nur übertroffen durch die Kondition der Spielenden, die in ihrer Genauigkeit mit der hinzugefügten, digital erstellten Instrumentenspur mithalten können. Ebenso wie die real gespielten Instrumente ist der digital erstellte Sound im Ansatz ein Zupfinstrument, von Gitarre und Mandoline inspiriert. Durch verschiedene Techniken der Klangerzeugung werden die musikalischen Eigenheiten der realen Zupfinstrumente verfremdet und so auch mit deren traditioneller Konnotation gebrochen. Die hektische, komplizierte Rhythmik der Komposition wird dabei gelegentlich durch rhythmische Pattern unterwandert. Es entsteht eine Klang- und Rhythmenpolyphonie, in der sich gemeinsam musizierte Momente mit solistischen Passagen abwechseln. Diese bilden sich wiederum nicht aus linear geführten Einzeltönen, sondern bestehen aus Akkorden, wodurch auch die Einzelstimmen an Breite gewinnen.

An »Paroxysmen«, einem 11-minütigen Stück für Stahlsaitengitarre, Cembalo, Zuspielband und Schlaginstrumente, habe ich von 2016 bis 2017 anderthalb Jahre gearbeitet. 

Der Titel ist durchaus programmatisch zu verstehen: Paroxysmen, beständig zunehmende anfallartige Krankheitserscheinungen oder eine Folge von sich steigernden Vulkanausbrüchen, durchziehen in Form von plötzlichen dynamischen Ausbrüchen das Stück. Diese eruptiven Momente steigern sich zu einem anhaltenden Paroxysmus im letzten Formteil, einer Stretta im vierfachen forte.  

Das Stück gliedert sich in drei Großteile, deren letzte beiden aus mehreren Subteilen bestehen. Im ersten Teil werden sämtliche instrumentale Kombinationen durchlaufen; kurze Momente mit je eigenem Gepräge wechseln einander ab. Der zweite Teil exponiert vier aufeinander folgende Trios, in denen das anfänglich akkordische Spiel zunehmend mit linearen Gebilden angereichert wird. Der dritte Teil verzeichnet nicht nur einen instrumentatorischen Zuwachs – das Tutti bestimmt die Faktur dieses Formteils –, sondern auch einen energetischen: Die Transparenz des Anfangs macht einer Ästhetik des Surplus Platz. Vielgestaltige und simultan ablaufende Prozesse, oft in rasender Geschwindigkeit, werden zuweilen überraschend unterbrochen von plötzlichen Rissen im formalen Gewebe. Im Gegensatz zu meinen vorigen Stücken wird die Morphologie in »Paroxysmen« maßgeblich von Akkorden bestimmt, die in ihren Kombinationen Massenwirkungen hervorrufen. Neu sind auch formbildende Verfahren wie Kadenzklänge, plötzliche solistische Passagen oder das Messiaensche Prinzip »Auftakt-Akzent-Ausklang«. Außerdem arbeitete ich erstmalig mit insistierenden Wiederholungen, homorhythmischen Passagen und mit auf einem Grundschlag basierenden Rhythmen.

Adrian Kleinlosen

Fiebrig wild wird es gegen Ende der Komposition. Hier kommt die Krankheit, der Paroxysmus, als lineare Zuspitzung zum vollen Ausbruch, wie im Titel angelegt. Ein abruptes Ende. Die drei Musiker sind erschöpft!