TEKTONIK 7 Anja Kampmann, Ermis Theodorakis

Ariowitsch-Haus

Leipzig

8 Euro
5 Euro ermäßigt

Biró, Xenakis

Uraufführung

Dániel Péter Biró 1969 –
Gvul 2017

für Klavier

Gvul (Grenze) wurde für das Projekt Narrative of Memory: migration and xenophobia in the European Union and Canada geschrieben und im Sommer 2017 bei der Fondation du Camp des Milles Mémoire in Aix-en-Provence von Ermis Theodorakis uraufgeführt. Durch musikalische Analogie setzt sich diese neue Komposition mit der komplexen Frage von Migration, kollektiver Erinnerung und Geschichte auseinander. Das Stück inkorporiert die vielfältigen harmonischen Möglichkeiten des Klaviers, um Erinnerungen aus der Vergangenheit hervorzurufen und das Neue, also das aus Franz Schuberts Sonate in B-Dur (D 960) hervorkommende Material, zu entdecken.

Die Komposition von Schubert fungiert als Überbleibsel von einer „vergangenen Zivilisation“ Europas, die der Zuhörer betritt und bewohnt, ähnlich einem Migranten, der sich in ein fremdes, „neues“ Land, das gleichzeitig „alt“ ist, ansiedelt. Innerhalb der Komposition tauchen Fragmente aus Schuberts Werk, oft als „entleibte“ Präparate, auf und finden neue Existenz als archealogische Fragmente einer sonoren Ruine. Schatten von Schuberts Stück erscheinen zusammen mit und getrennt von den eher „remanenten“ Aspekten des Klaviers — Geräusch, Obertöne und Resonanz. Die daraus entstehende klangliche Landschaft lädt das Gedächtnis auf — individuell und kollektiv — und führt ihre Zuhörer in ein neues klangliches Terrain.

Dániel Péter Biró (geboren  1969) ist Associate Professor/Førsteamanuensis an der Universität von Bergen in Norwegen. Er begann seine musikalische Ausbildung an dem Bartók Konservatorium in Budapest. Er war Fulbright-Stipendiat an der Hochschule für Musik in Frankfurt und studierte später in Bern, Würzburg und Wien. Im Juli 2004 promovierte er an der Princeton University mit einer Dissertation über die Entwicklung der Notation. In 2011 war er Gast-Professor an der Universität Utrecht wo er islamische und jüdische Rezitationspraxis forschte. In 2014-2015 war er Fellow am Radcliffe Institute for Advanced Study der Harvard University. In 2015 wurde er als Mitglied der Royal Society of Canada College of New Scholars, Artists and Scientists gewählt. In 2017-2018 ist er Fellow der John Simon Guggenheim Foundation.

Iannis Xenakis 1922 – 2001
Evryali 1973

für Klavier

Iannis Xenakis, eine der führenden Gestalten der modernen Musik, hat viele Komponisten beeinflusst, insbesondere in den später fünfziger und den sechziger Jahren, als er mit Kompositionstechniken experimentierte, die bald zum Grundrepertoire der Avantgarde der 20. Jahrhunderts gehörten.

Xenakis wurde am 29. Mai 1922 als Sohn griechischer Eltern geboren, allerdings nicht in Griechenland, sondern im rumänischen Braïla. Zunächst ließ er sich in Athen zum Bauingenieur ausbilden. 1947, nach drei Jahren Kampf im griechischen Widerstand gegen die Nazi-Okkupation, während der er schwere Verletzungen erlitt (er verlor die Sehkraft auf einem Auge), entkam er einem Todesurteil und setzte sich nach Frankreich ab, wo er sich niederließ und bald zu einem bedeutenden Teil der dortigen Kulturszene wurde.

Xenakis war zunächst als Architekt tätig und arbeitete mit Le Corbusier an einer Reihe von Projekten zusammen, nicht zuletzt den von ihm selbst gestalteten Philips-Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung 1958. Ebenfalls in den fünfziger Jahren wurden Xenakis’ erste Werke veröffentlicht. 1952 belegte er Kompositionskurse bei Olivier Messaien, der ihn ermunterte, seine wissenschaftlichen Kenntnisse in die Musik einzubringen.

Der Stil, der daraus entstand, war aus Verfahren der Mathematik, architektonischen Prinzipien und der Spieltheorie abgeleitet und katapultierte Xenakis an die Spitze der Avantgardebewegung – obgleich niemals die Rede von der Zugehörigkeit zu einer Gruppierung war: Er blieb immer auf sich selbst gestellt. Nie etwa verschrieb er sich seriellen Prinzipien, ebenso wenig wie traditionellen Mitteln der Harmonie oder Polyphonie. Stattdessen entwickelte er andere Wege, die dichten Klangmassen, die seine ersten Kompositionen auszeichnen, zu strukturieren. Diese stochastischen oder auch zufälligen Verfahren beruhten auf mathematischen Prinzipien; später realisierte er sie mithilfe von Computern.

Trotz aller formalen Kontrolle in der kompositorischen Technik haben Xenakis’ Werke eine elementare Energie, eine Lebenskraft behalten, die seiner Musik eine geradezu körperliche Wirkung verleihen: Werken wie Bohor für Elektronik (1962), Eonta für Klavier und Bläserquintett (1963-64), Persephassa für sechs Perkussionisten, die um das Publikum herum verteilt sind (1969) und das Ballett Kraanerg für 23 Instrumentalisten und Tonband (1969) eignet eine urtümliche Kraft, die über die Komplexität ihrer Entstehung  hinwegzutäuschen scheint. The Sydney Morning Herald sagte etwa über Kraanerg, dass es „atemberaubend kraftvoll und geräuschvoll bleibt, ein Versuch beständig erneuerter Energie, die nicht das geringste Zeichen des Zauderns zeigt“. Vereint mit dieser ursprünglichen Kraft ist die Faszination des Komponisten für Rituale, meist die des alten Griechenland; zu ihrer vollständigsten dramatischen Gestalt gelangen sie in seiner Version der Oresteia (1966).

Anja Kampmann, "Wie hoch die Wasser steigen", Umschlaggestaltung © Hanser Verlag.
Anja Kampmann, "Wie hoch die Wasser steigen", Umschlaggestaltung © Hanser Verlag.